Kontinuitätslinien des modernen Konsums

Stand:
Benjamin Möckel über ein Handbuch zur deutschen Konsumgeschichte
Cover Logemann Kleinschmidt 978-3-11-056764-9

Rezension von Dr. Benjamin Möckel (Universität zu Köln)

Kleinschmidt, Christian und Jan Logemann, Hrsg. 2021. Konsum im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: de Gruyter Oldenbourg.

Umfang: 658 Seiten I ISBN-Print 978-3-11-056764-9 I ISBN E-Book (PDF) 978-3-11-0570397 I Preis Print: 179,95 EUR I Preis E-Book: 179,95 EUR I Inhaltsverzeichnis

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Konsum gehört nicht nur zu den prägenden Erfahrungen des modernen Alltags. Er hat auch eine weit zurückreichende Geschichte. In der Geschichtswissenschaft spielt die Konsumgeschichte daher seit geraumer Zeit eine wichtige Rolle. Nach einer ersten Forschungskonjunktur in den 1980erJahren hat sich gerade in den letzten Jahren ein neuer Blick auf die Geschichte des Konsums herausgebildet, der neue Fragestellungen – z. B. aus der Geschlechtergeschichte, der Mediengeschichte oder der Mentalitätsgeschichte – integriert. Diese Arbeiten halten auch für aktuelle Diskussionen interessante Erkenntnisse bereit.

Einstieg in den aktuellen Stand der Konsumgeschichtsschreibung

Das vorliegende Buch bietet für diese historische Perspektive einen ausgezeichneten Einstieg. In insgesamt zwanzig, allesamt von ausgewiesenen Expert:innen verfassten, Einzelbeiträgen eröffnet sich ein breites Panorama der Konsumgeschichte vom frühen 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Auch wenn die Beiträge klar den Gepflogenheiten akademischer Fachpublikationen folgen – viele Fußnoten, fast keine Bilder, dichter Text, gelegentlich aufgelockert durch eine statistische Tabelle – erfüllen die meisten Beiträge dennoch den von den Herausgebern der Buchreihe formulierten Anspruch, sich in gleicher Weise an ein akademisches Fachpublikum, Lehrende, Studierende und eine breite historisch interessierte Öffentlichkeit zu richten. Wer einen Einstieg in den aktuellen Stand der Konsumgeschichtsschreibung sucht, kommt an diesem Buch zukünftig nicht mehr vorbei.

Der Band ist klar strukturiert. Auf einer ersten Ebene unterscheiden die Herausgeber zwei Zeitepochen – erstens die Zeit zwischen 1770 und 1918, zweitens die Zeit von 1918 bis zur Gegenwart –, deren Merkmale aufgrund der Länge des Zeitraums jedoch relativ allgemein bleiben. Inwiefern 1918 als eine zentrale Zäsur der Konsumgeschichte verstanden werden kann, wäre weiter zu untersuchen. Der Band jedenfalls legt mit guten Gründen den Fokus eher auf die langen Kontinuitätslinien als auf klare politische Brüche. Innerhalb der beiden Zeitepochen werden wiederum drei Perspektiven unterschieden: erstens die Perspektive der "Konsumenten", zweitens die Perspektive der "Produzenten und Unternehmen" und drittens die Perspektive von "Gesellschaft und Konsumpolitik". Auf diese Weise werden verschiedene Ebenen des Konsums zusammengeführt, die sonst oft nur getrennt voneinander analysiert werden: So u. a. die quantitativen Entwicklungen in der Ausbreitung von Produkten, die politische Dimension der Regulierung des Konsums, aber auch die subjektiven Erfahrungen von Konsument:innen und die steigende Bedeutung, die Konsum als moderner Praxis der Subjektivierung zukam. Räumlich konzentriert sich das Handbuch auf Deutschland, wobei die einzelnen Beiträge immer wieder verdeutlichen, dass ein solcher nationalgeschichtlicher Zugriff nur schwer aufrechtzuhalten ist. Eine Geschichte der Konsumgesellschaft ist immer auch eine Geschichte der sich ausweitenden globalen Verschränkungen.

Kein geradliniger Weg zur modernen Massenkonsumgesellschaft

Was erfährt man nun in dem Buch über die Entstehungsgeschichte des modernen Konsums? Deutlich wird in allen Beiträgen, dass es keinen geradlinigen Weg zur modernen Massenkonsumgesellschaft gab, sondern eher verschlungene und sich zum Teil kreuzende Pfade, die sich keineswegs überall zur selben Zeit und in der gleichen Weise durchsetzten. Das gilt gerade für Deutschland, das in konsumgeschichtlicher Perspektive im europäischen Kontext eher ein Nachzügeler war. Die einzelnen Beiträge verdeutlichen diese Komplexität und Widersprüchlichkeit der Entwicklung auf überzeugende Weise. Schon in sozialgeschichtlicher Perspektive galt, dass sich neue Konsumpraktiken je nach sozialer Schicht oder Milieu in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchsetzten. Auch verdeutlicht das Buch, dass die Durchsetzung der Konsumgesellschaft nicht mit einem völligen Verschwinden früherer Formen der Selbstversorgung verbunden war, sondern beides bis in die Gegenwart hinein koexistierte. In Bezug auf die Produzent:innen betonen die Beiträge ebenfalls die Komplexität und das nötige Zusammenwirken sehr unterschiedlicher Prozesse, die erst die Genese moderner Formen des Konsums ermöglichten. Es war eben nicht nur eine gestiegene Marktnachfrage von Konsument:nnen oder die Durchsetzung der Massenproduktion, die eine Konsumgesellschaft ex nihilo hervorbrachte; vielmehr mussten zahlreiche Akteure zusammenwirken und komplexe Infrastrukturen etabliert werden, um eine marktförmige Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zuverlässig zu garantieren.

Die einzelnen Beiträge verdeutlichen dies u. a. anhand der Veränderungen in der Nahrungsmittelversorgung, der Durchsetzung der Massenproduktion, der Genese eines global vernetzten Systems des Handels von Gütern, und dem Aufbau eines modernen Einzelhandels und der hiermit verbundenen Entstehung moderner Formen der Produktwerbung. Parallel hierzu wurde Konsum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem relevanten Politikfeld, auch wenn Verbraucherpolitik im Kaiserreich noch keine ähnliche Bedeutung erlangte wie beispielsweise die zeitgleich in den USA entstandene Progressive Era. Insgesamt zeichnen die Beiträge des ersten Teils somit sehr anschaulich die von Christian Kleinschmidt in seinem dichten und konzisen Einleitungsbeitrag skizzierte Entwicklung von einer exklusiven "Proto-Konsumgesellschaft" zu einer inklusiven Konsumgesellschaft nach, die jedoch noch nicht alle Merkmale der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts hervortretenden Massenkonsumgesellschaft ausbildete.

Diese Entwicklung hin zu einer Massenkonsumgesellschaft steht im Mittelpunkt des zweiten Teils des Buches. Dass das Buch hierfür im Jahr 1918 und nicht – wie in den meisten Fällen – im Jahr 1945 ansetzt, ist für die folgenden Ausführungen plausibel und erkenntnisfördernd. Die europäischen Konsumgesellschaften erscheinen auf diese Weise nicht mehr nur als Übernahme der Entwicklungen in den USA als "irresistible empire" (Victoria de Grazia), sondern werden auf ihre eigenständigen Entwicklungslinien befragt, die auch über die offensichtlichen politischen Brüche des 20. Jahrhundert von Bedeutung blieben. Gerade für die deutsche Geschichte liegt hierin aber natürlich auch eine große Herausforderung: Schließlich muss man hier diese Kontinuitätslinien über zwei Weltkriege und innerhalb von drei politischen Systemen – zwei davon parallel existierend – weiterverfolgen. In seinem sehr überzeugenden Einleitungsaufsatz zum zweiten Teil des Buches löst Jan Logemann dieses Dilemma, indem er einerseits auf die strukturellen Veränderungen des Konsums im 20. Jahrhundert verweist, die sich auch unabhängig von den politikgeschichtlichen Zäsuren weiterverfolgen und analysieren lassen, andererseits aber auch eine Periodisierung in sieben Schritten vorschlägt, die von der "prekären Konsumgesellschaft der Zwischenkriegszeit" (1918-1933), der "virtuellen Konsumgesellschaft des Nationalsozialismus" (1933-1941), der "suspendierten Konsumgesellschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit" (1942-1948) der nachholenden Konsumgesellschaft" der Nachkriegsjahre (1949-1957), der "(hoch)modernen Massenkonsumgesellschaft" (1958-1970er) bis zur "differenzierten Massenkonsumgesellschaft" ab den 1970er Jahren reicht. Auch wenn sich die DDR nur schwer in diese Periodisierung einfügt, gibt diese zeitliche Strukturierung doch ein Gerüst vor, das in den folgenden Beiträgen empirisch gefüllt wird.

Diese empirischen Beiträge sind ebenso weitgefächert wie im ersten Teil. Eine wichtige Rolle spielen die sich wandelnden Konsumentenbilder, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr viel stärker in einzelne Konsumsegmente und -milieus auffächerten. Ein zweiter Punkt, der das 20. Jahrhundert von der Zeit davor abgrenzt, ist die größere Bedeutung politischer Strukturen und Kontextualisierungen – sowohl in den nun sehr viel einflussreicheren Ansätzen der Verbraucherpolitik als auch in der Bedeutung, die dem Konsum in den verschiedenen politischen Systemen – der Kriegswirtschaft des Ersten und Zweiten Weltkrieges, den ideologischen Konflikten des Kalten Krieges, der Mangelökonomie der DDR – zukam. In anderen Feldern wiederum werden die Entwicklungen aus dem ersten Teil des Buches für das 20. Jahrhundert weitergeschrieben – beispielsweise für die Geschichte der Werbung, der Genese und partiellen Auflösung "fordistischer" Produktionsweisen oder den Innovationen des Einzelhandels bis hin zum Onlinehandel.

Ein äußerst hilfreicher Begleiter

Für Historiker:innen bietet der Band einen äußerst hilfreichen Begleiter, der den aktuellen Stand der Konsumgeschichte auf dem neuesten Stand der Forschung präsentiert. Das Buch ist auf diese Weise sowohl ein wichtiger Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten als auch ein gelungenes Handbuch, das sich für die universitäre Lehre bald als unverzichtbar erweisen wird. Kann der historischen Blick auf 250 Jahre Konsumgeschichte auch relevante Antworten für aktuelle Fragen des Konsums beantworten – oder gar dessen zukünftige Herausforderungen? Die historische Kontextualisierung des Bandes hilft zweifellos, aktuelle Entwicklungen kritisch zu differenzieren und allzu pauschale Urteile – über ein Ende des Einzelhandels, den unaufhaltsamen Siegeszug der Globalisierung oder dem Übergang von einer Arbeits- zu einer Konsumgesellschaft – einer historisch informierten Perspektivierung zu unterziehen. Im Gegensatz zu eindimensionalen Erfolgs- oder Niedergangserzählungen verdeutlichen die in dem Band versammelten Beiträge, in welch starkem Maße Innovationen im Bereich des Konsums vom Zusammenspiel mehrerer Faktoren abhängig waren, und wie schwierig es oft war, neue Strukturen durchzusetzen oder zu etablieren. Das ist auch für aktuelle Debatten, die sich mit der Transformation heutiger Ökonomien in "nachhaltige" und ökologisch zukunftsfähige Konsumregime beschäftigen, eine wichtige – wenn auch nicht unbedingt optimistisch stimmende – Erkenntnis. Gerade diese ökologische Dimension und insbesondere die enge Verschränkung des modernen Konsums mit der Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie den extremen globalen Ungleichheiten, die modernen Ökonomien bis heute eingeschrieben sind, bleiben in dem Band jedoch beinahe gänzlich außen vor. Das ist eine Leerstelle, die in Anbetracht heutiger Diskussionen und Herausforderungen verwundert.

Empfohlene Zitierweise | Möckel, Benjamin. 2021. Kontinuitätslinien des modernen Konsums (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 2. Juni. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/kontinuitaetslinien-des-modernen-konsums-moeckel-rezension-kleinschmidt-logemann-konsum-im-19-und-20-jahrhundert-60951.

Die Abbildung des Buchcovers erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Die Rezension gibt die Meinung des Autors wieder und muss nicht mit den Meinungen und Positionen des KVF NRW und der Verbraucherzentrale NRW e. V. übereinstimmen.