Prosuming und Genossenschaften

Stand:
Das Projekt untersucht die Potenziale des Verbraucherschutzes durch Genossenschaften in der Sharing Economy. Dabei ging es um eine Erkundung von Lösungen (best practices) in den Sektoren Bürgerenergie, Solidarische Landwirtschaft und Gemeinsames Wohnen.
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Ergebnisse des Forschungsprojekts "Prosuming, Genossenschaften und der Wandel der Verbraucherrollen: Exploration der Schutzpotentiale für Verbraucher*innen durch genossenschaftliche Organisationsformen"

Herbert Klemisch

Ziel des Projektes war es, die Potenziale des Verbraucherschutzes durch Genossenschaften in der Sharing Economy explorativ zu erschließen. Dabei ging es um eine Erkundung von Lösungen (best practices) in den Sektoren Bürgerenergie, Solidarische Landwirtschaft und Gemeinsames Wohnen.

Die Trennung von Produktion und Konsum und deren Entfremdung voneinander sind bestimmende Merkmale der modernen Ökonomie. Heute lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen erkennen, die sich durch das Überwinden der Erzeuger-Verbraucher-Entfremdung und die Ausbildung von Prosumenten-Ansätzen und -Netzwerken auszeichnen. Zu dieser Entwicklung trägt nach allgemeinem Verständnis auch die Sharing-Economy bei.

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Methodisches Vorgehen

Das Forschungsdesign folgt einem qualitativ-verstehenden Ansatz, der dem explorativen Charakter der Untersuchung entspricht. Die Studie basiert auf einer breit angelegten Literaturauswertung. Die Exploration bezieht sich auf den wissenschaftlich bisher wenig oder unsystematisch erschlossenen Forschungsbereich der Entgrenzung der Verbraucher- und Erzeugerrollen und der solidarischen Nutzung von Gemeinschaftsgütern (Sharing Economy). Um die Besonderheiten dieses Bereichs der Wirtschaftstätigkeit zu erfassen und vor dem Hintergrund neuer Anforderungen an den Verbraucher- und Erzeugerschutz zu analysieren, konzentrieren sich die explorativen Fallstudien auf drei ausgewählte Bereiche, in denen in signifikanter Ausprägung genossenschaftliche Wirtschafts- und Rechtsformen eine Rolle spielen:

  • Wohnen und Nutzung von Gemeinschaftsgütern;
  • Energie in Form von Erzeugung und Nutzung von Wärme und/oder Strom;
  • Landwirtschaft durch gemeinsame Planung und Hilfen bei der Erzeugung und Verteilung.

Ergebnisse nach Sektoren

Die folgende Übersicht zeigt Charakteristik und Sektorzuordnung der untersuchten Fallbeispiele auf.

Charakteristik der untersuchten Fallbeispiele
Genossenschaft /
Organisation
Charakteristik Sektorzuordnung
Kartoffelkombinat eG Genossenschaft Solidarische Landwirtschaft
Gärtnerhof Entrup 119 eG Genossenschaft Solidarische Landwirtschaft
Tagwerk eG Erzeuger- / Verbrauchergenossenschaft (Solidarische) Landwirtschaft
Kulturland eG Dachgenossenschaft zum Landkauf (Solidarische) Landwirtschaft
Heidelberger Energiegenossenschaft (HEG) eG Energiegenossenschaft Bürgerenergie
Energiegewinner eG Energiegenossenschaft Bürgerenergie
Bioenergiedorf Oberrosphe Energiegenossenschaft Bürgerenergie
Bürgerwerke eG Dachgenossenschaft Bürgerenergie
Solinger Spar- und Bauverein Wohnungsgenossenschaft Wohnen
Mietshäuser Syndikat Dachorganisation Wohnen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bürgerenergie

Im Energiebereich wird in Privathaushalten Strom nicht nur verbraucht, sondern durch Photovoltaikanlagen auch produziert und in die Netze eingespeist. Die Eigenerzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen durch Bürger*innen und Energiegenossenschaften kann Schritt für Schritt zu einer Dezentralisierung und gesellschaftlichen Wiedereinbettung der Energieversorgung führen und dabei die Hürden zwischen Energieerzeuger*innen und Energieverbraucher*innen einreißen. Es besteht die Möglichkeit die Prosumenten-Rolle als Genossenschaftsmitglied aktiv auszufüllen und als „Mitglied der anbietenden Genossenschaft sind die Verbraucher eben auch Erzeuger“ (Energiegewinner). Die Genossenschaft wird somit zur Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft, da die Mitglieder mittels direkter Projektbeteiligung (Modulkauf und der Möglichkeit des Strombezugs über die Genossenschaft) beide Rollen in sich vereinen können. Der Vorstandsvorsitzende des Bioenergiedorfs Oberrosphe schätzt die Genossenschaft als Prosumenten-Organisation im Wortsinn ein: „Wir produzieren Wärme und Strom, die wir gleichzeitig auch verwenden.“ Die Bürgerwerke eG, die als Dachgenossenschaft von fast hundert Energiegenossenschaften fungiert, versteht sich als Transformator zur Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft und damit als „Ermöglicher“ eines Prosumentenansatzes. Die Ansätze bleiben allerdings in allen Fällen den Genossenschaftsmitgliedern vorbehalten. Der verbraucherpolitische Vorteil wird darin gesehen, gut informiert, sein eigener Stromanbieter sowie autark zu sein.

Solidarische Landwirtschaft

Im Ernährungsbereich findet man neben Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, auch Initiativen der Solidarischen Landwirtschaft oder des Foodsharing. Verbindendes Merkmal ist das gemeinsame Produzieren und Konsumieren. Die Verbraucher*innen unterstützen die Unternehmen durch den Kauf von Waren im Hofladen, von Regionalmarken-Artikeln im Lebensmitteleinzelhandel, durch den Bezug bzw. das Abholen von Abo-Kisten oder durch die finanzielle Unterstützung der Dachgenossenschaft, um weitere Projekte einer nachhaltigen Landwirtschaft durch Landkauf zu unterstützen. Im Sinne eines Versuchs partnerschaftlicher Lernprozesse werden die Verbraucher*innen an die Wertschöpfungskette herangeführt und teilweise integriert. Alle Unternehmen zeichnen sich durch Offenheit und Transparenz aus. Sie stellen umfassende Informationen zur Erzeugung und Qualität der Produkte zur Verfügung, öffnen aber auch ihre Höfe und Produktionsstätten, z. B. im Rahmen von Hoffesten und Besichtigungsterminen und setzen somit auf das Prinzip der gläsernen Produktion. Solidarische Abnahmebeziehungen und Finanzierungsmodelle sind möglich, um Erzeuger*innen und Produzent*innen bei Bedarf zu unterstützen.

Eine besonders ausgeprägte Form von Prosuming weisen die Unternehmen der Solidarischen Landwirtschaft oder der Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft auf, indem die Verbraucher*innen auf unterschiedlichste Weise bei Erzeugung, Verarbeitung oder dem Vertrieb von Produkten einbezogen sind. Die Verbraucher*innen kaufen nicht nur, sondern gehen durch Abnahmeverträge eine solidarische Bindung ein. Sie sind im Rahmen des Wertschöpfungsprozesses an der Herstellung beteiligt. Zum Teil sind sie auch anteilig im Besitz der Betriebsmittel, die zur Produktion benötigt werden, d. h. sie produzieren mit eigenen Mitteln für ihren eigenen Bedarf. Sie gehen hierzu formelle, längerfristige Verträge ein, sind Mitglieder oder Miteigentümer*innen und binden sich somit über längere Zeiträume. In der Solidarischen Landwirtschaft wird die Rollenverteilung zwischen Erzeugung und Verbrauch insofern aufgebrochen, als die Verbraucher*innen durch ehrenamtliche Eigenarbeit zu einem wesentlichen Bestandteil des Wertschöpfungsprozesses werden.

Gemeinsames Wohnen

Auch im Wohnungsbereich hält die Sharing Economy Einzug, indem Mieter*innen Gemeinschaftsangebote wie Gärten, Gemeinschaftsräume, Mobilitätsangebote etc. nachfragen und Wohnungsgesellschaften diesen Nachfragen nachkommen. Heute tummeln sich unter dem Etikett des gemeinschaftlichen Wohnens sowohl privatwirtschaftlich ausgerichtete Baugruppen, als auch Organisationen, die eher an der Gemeingüteridee orientiert sind.

Beispiele für die zweite Variante sind vor allem das Mietshäuser Syndikat und einige Dachgenossenschaften. Das Ziel des Mietshäuser Syndikats ist es dabei, die angeschlossenen Projekte dauerhaft dem Markt zu entziehen. Obwohl es sich um eine Nische handelt, ist der Verbund des Mietshäuser Syndikats in letzter Zeit exponentiell gewachsen. Von 115 Mitgliedern im Jahr 2000 ist die Mitgliederzahl  auf 1000 in 2019 gewachsen.

Handlungsempfehlungen

Die Fallbeispiele belegen die Eignung des Prosuming-Modells, zumindest für die Bereiche Bürgerenergie und Solidarische Landwirtschaft. Dagegen gibt es zwar Beispiele von Sharing Ansätzen im Feld des Genossenschaftlichen Wohnens, allerdings scheinen Mieter*innen bisher weniger einem neuen Verbrauchertyp im Sinne des Prosumenten verbunden zu sein.

Schlussfolgerungen aus verbraucherpolitischer Sicht

Alle Modelle sind als organisatorische Innovationen und Pionieransätze zu kennzeichnen, deren Wegstrecke zum Mainstream, trotz zahlreicher Nachahmer, allerdings noch lang erscheint. Unklar bleibt, ob die Modelle ökonomisch erfolgreich oder ob sie immer nur ein Modell für Nischen sein werden. Allerdings ist angesichts sich zuspitzender gesellschaftlicher, ökologischer und sozialer Probleme in allen Sektoren eine Auseinandersetzung mit einer alternativen Praxis von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Dies gilt für alle untersuchten Sektoren.

Den Verbraucher*innen bieten Genossenschaften die Möglichkeit, sich als Prosumenten in einem rechtssicheren Raum zu engagieren. Weitere Vorteile des Prosumings für Verbraucher*innen sind die hohe Transparenz und die gute Verbraucherinformation. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit sich selber von der Qualität der Produkte und Dienstleistungen vor Ort zu überzeugen. Die vorgestellten Praxismodelle bieten daneben hohe Potenziale für Engagement und Partizipation der Verbraucher*innen. Sie sind durch kurze Wege und ihre regionale Ausrichtung prädestiniert für eine dezentrale Versorgung und haben hier eindeutige Vorteile gegenüber zentralen Marktlösungen. Dies gilt für alle Sektoren.

Schlussfolgerungen aus genossenschaftlicher Sicht

Die Genossenschaft bietet als demokratische Organisationsform gute Chancen zur Umsetzung des Prosumenten-Ansatzes. Viele Gesprächspartner bezeichnen das Besondere der Organisationsform als gelebte Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft. Allerdings bleiben die aktiven Möglichkeiten der Verbraucherbeteiligung in der Regel auf die Genossenschaftsmitglieder beschränkt. Der Grad der aktiven Nutzung durch den Verbraucher variiert zudem stark nach Geschäftsfeld und Größe der Organisation. Im Bereich Bürgerenergie scheint die Form der GmbH und im Bereich Solidarische Landwirtschaft die Form des Vereins eine häufig genutzte Alternative zu sein. Im Bereich des Gemeinsamen Wohnens taucht neben der Genossenschaft die Form des Mietshäuser Syndikates auf, ein attraktives Modell, das wesentliche Elemente dachgenossenschaftlicher Ansätze enthält.

Das genossenschaftliche Solidaritätsprinzip kommt zum Tragen und kann potenziell soziale Ungleichheiten ausgleichen, ist allerdings je nach Unternehmen und Sektoren unterschiedlich ausgeprägt. Während im Sektor Bürgerenergie ganz klar eine wirtschaftliche Ausrichtung dominiert, finden sich sowohl in Projekten der Solidarischen Landwirtschaft, als auch beim Mietshäuser Syndikat Positionen wieder, die Güter als Allmende begreifen und diese damit partiell dem Marktzugriff entziehen möchten

Autor: Dr. Herbert Klemisch; Sozialwissenschaftler und Projektleiter im Wissenschaftsladen Bonn

Förderhinweis: Dieses Forschungsprojekt wurde durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung (KVF NRW) gefördert. Das KVF NRW ist ein Kooperationsprojekt der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e. V. mit dem Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz (MULNV) und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) des Landes Nordrhein-Westfalen.

Stichworte: Standard-Thesaurus Wirtschaft (STW): Agrargenossenschaft, Agrarproduktion, Bürgerbeteiligung, Energie, Genossenschaft, Produktionsgenossenschaft, Share Economy, Verbraucherschutz, Wohnungsgenossenschaft | Thesaurus Sozialwissenschaften (TheSoz): Agrargenossenschaft, Agrarproduktion, Bürgerbeteiligung, Energie, Energieverbund, Genossenschaft, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Verbraucherschutz, Wohnen

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