Laudatio

Rede von Prof. Dr. Jörn Lamla am 26. September 2016

Rede von Prof. Dr. Jörn Lamla am 26. September 2016

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Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau Ministerin Schulze, sehr geehrter Herr Minister Remmel, sehr geehrter Herr Schuldzinski, sehr geehrte Absolventinnen und Absolventen,

eine Befragung unter den Mitgliedern des bundesweiten Netzwerks Verbraucherforschung hat jüngst ergeben, dass der mit Abstand größte Bedarf an verbraucherorientierter Forschung im Bereich der Digitalisierung gesehen wird. Nun wissen wir, dass das Land Nordrhein-Westfalen – jedenfalls in den Feldern Verbraucherschutz, Verbraucherpolitik und Verbraucherforschung – anderen schon immer einen Schritt voraus war. Daher ist es kein Wunder, aber doch eine Freude zu sehen, wie junge Absolventinnen und Absolventen nordrhein-westfälischer Universitäten und Fachhochschulen auch im Bereich der Digitalisierung mutig und entschlossen vorangehen.

Alle drei Abschlussarbeiten, die der Beirat des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung für einen Preis vorgeschlagen hat, widmen sich äußerst kreativ und engagiert den Herausforderungen des digitalen Zeitalters. Herausgefordert sind wir dabei nicht nur durch vielfältige Probleme des Daten- und Verbraucherschutzes, die sich in der digitalen Welt vermehrt und in ganz neuen Formen stellen. Eine verbraucherwissenschaftliche und verbraucherpolitische Herausforderung sind die digitalen Technologien vielmehr auch, weil sie Gestaltungspotential bereitstellen und entschieden als Gestaltungsaufgabe anzunehmen sind – und nicht als bedrohliche, gesellschaftstransformierende Naturgewalt, deren Epizentrum irgendwo im Silicon Valley liegt. Dies begriffen zu haben und sich unerschrocken den digitalen Möglichkeiten für den Ausbau von Verbraucherschutz, Verbraucherbildung und Verbraucherpolitik zuzuwenden, ist das große Verdienst aller drei hier zu ehrenden Abschlussarbeiten.

Während es in diesem Jahr leider keine Dissertation gibt, für die wir einen Preis verleihen könnten, war es der Jury bei den frühesten Abschlussarbeiten nicht möglich, sich nur für eine zu entscheiden. Wir haben daher kurzerhand entschieden, dass hier heute zwei Bachelorarbeiten und eine Masterarbeit ausgezeichnet werden sollen. Es handelt sich um die BA-Arbeit von Anne Diers zum "(mobilen) Lernen in der Ernährungs- und Verbraucherbildung: Vermittlungspotenzial eines QR-Code-Lehrpfades auf einem Bauernhof". Die zweite Bachelorarbeit hat David Hellmanns zum Thema "Making Individual Cloud Usage of Smartphone Users Transparent" geschrieben. Und die Master-Thesis stammt von Anika Cerkowniak und widmet sich der "Gestaltung eines Eco-Feedbacksystems zur Förderung der Nachhaltigkeit in den Bereichen Haushalt, Arbeit und Mobilität". Wie die anderen Arbeiten will auch dieses Feedbacksystem Möglichkeiten digitaler Datenverarbeitung und -aufbereitung für die Aktivierung von Verbraucherinnen und Verbrauchern kreativ nutzen. Gerne erzähle ich Ihnen etwas genauer, was sich hinter diesen drei Titeln jeweils verbirgt.

Die Problemstellung von Frau Diers, die an der Fachhochschule Münster Oecotrophologie studiert hat, ist folgende: Wie kann man Jugendliche und junge Erwachsene, die ihre Welt primär durchs Smartphone wahrnehmen, für landwirtschaftliche Produktionsabläufe interessieren und somit für die Hintergründe ihres alltäglichen Lebensmittelkonsums sensibilisieren? Die Antwort klingt zunächst banal: Mittels Smartphone. Aber die Umsetzung hat es in sich. Die Lösung, die Frau Diers vorschlägt und Schritt für Schritt ausarbeitet, besteht nämlich nicht einfach darin, Online-Inhalte zusammenstellen und als Twitter-Meldung oder Facebook-Posting unter die Jugendlichen zu bringen, sondern darin, medial vermittelte Informationen in einen Parcours zu integrieren, der offline, also vor Ort auf dem Bauernhof, abzuschreiten ist. Dafür werden einzelne Stationen dieses Lehrpfades mit QR-Codes und Arbeitsblättern ausgestattet, die in Gestalt einer Rallye von Schülergruppen abgearbeitet oder auch individuell angelaufen werden können.

Online abrufbare Hintergrundinformationen, z. B. Videos über die Geburt eines Kalbes oder das Melken mit der Hand, sind zentraler Bestandteil der verschiedenen Stationen durch den Wertschöpfungsprozess des Familienbetriebes. Diese reichen von der Kälberaufzucht bis zur Milchaufbereitung in der hauseigenen Molkerei. Vorteil dieser Methode ist, das sie gut zu den Zeitrestriktionen des landwirtschaftlichen Personals ebenso wie der Besucher und der Produktionszyklen selbst passt, weil diese Restriktionen durch medial vermittelte Zusatzinformationen ausgeglichen werden. Zugleich soll aber auch das Erfahrungslernen vor Ort nicht zu kurz kommen. Denn dieses sei unverzichtbar für die Ernährungs- und Verbraucherbildung. Neben dieser engeren Bildungsperspektive der Oecotrophologie deutet die Preisträgerin auch eine Verknüpfung mit den Zielen der Bildung für nachhaltige Entwicklung an, die aber – wohl aus Platzgründen – in der Arbeit selbst sehr kurz kommt. Man könnte also in den Wissenskanon der Stationen mehr Elemente aufnehmen, die Kontroversen um den Effizienzdruck in der Landwirtschaft und die Folgen für die Züchtung von Hochleistungskühen oder Unterschiede von Bio und Regio zum Thema machen. Aber in einer Bachelorarbeit steht nur begrenzt Platz zur Verfügung.

Die zweite BA-Arbeit von David Hellmanns greift ein zentrales Verbraucherschutzproblem der digitalen Welt auf. Cloud-Dienste sammeln und verarbeiten auf eine schwer durchschaubare Weise personenbezogene Daten und gefährden die informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger, die doch vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil Verfassungsrang erhalten hat. Doch auch hier wird – für einen Informatik-Absolventen der RWTH Aachen nicht überraschend – die digitale Technologie nicht verteufelt, sondern kreativ gewendet, um Lösungen für das Problem zu finden. Die Nutzung von Cloud-Diensten biete für mobile Nutzer enorme Vorteile, da die Speicherkapazität von Smartphones eng begrenzt ist. User sollen nicht restriktiv durch Verbote oder Ängste eingeschränkt werden. Vielmehr ist es Ziel der Bachelorarbeit, den Nutzerinnen und Nutzern der Cloud-Dienste mittels App transparent zu machen, welche Implikationen die Nutzung für die Kontrolle über ihre Daten hat, inwiefern ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung gefährdet wird und welche Privacy-freundlichen Alternativen zur Verfügung stehen.

Die Herausforderung besteht nun darin, von der Idee zur umsetzbaren Lösung für eine solche Cloud-Analyse-App zu gelangen. Diese muss eine Menge Anforderungen erfüllen. Ich kenne mich ein klein wenig aus, weil ich an einem DFG-Graduiertenkolleg zum Thema "Privacy and Trust for Mobile Users" beteiligt bin, das mit Kasseler Einsprengseln an der TU Darmstadt angesiedelt ist und interdisziplinär nach geeigneten Tools forscht, um Privatheit und Vertrauen in einer smarten Welt datenbasierter Geschäftsmodelle, mobiler sozialer Online-Netzwerke und autonom kommunizierender Sensorsysteme zu ermöglichen. Und dennoch könnte ich keine Details über die VPN-Lösungen oder die Layer der Cloud-Analyse wiedergeben. Daher nur so viel: Herr Hellmanns muss nicht nur sicherstellen, dass die App den Umgang der Cloud-Dienste mit personenbezogenen Daten mit der nötigen Tiefenschärfe erfasst, z.B. ob Dienste ihrerseits auf Cloud-Ressourcen dritter Anbieter zurückgreifen, wie bei Dropbox und Amazon. Er muss darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass über die App nicht versehentlich selbst personenbezogene Daten in falsche Hände gelangen. Und er muss ein Interface gestalten, das die gewonnene Transparenz alltagstauglich interpretier- und handhabar macht. Beispielsweise darf die App nicht viel Energie verbrauchen, muss sie die Kommunikationsgeschwindigkeit erhalten und robust gegen Systemabstürze gesichert sein. Keine leichte Aufgabe!

Auch diese Arbeit reizt zu weiteren Fragen, wie weit etwa der technisch erleichterte Selbstdatenschutz als Lösung trägt bzw. durch andere Ansätze des Privatheitsschutzes flankiert werden muss. Was aber aus soziologischer Sicht alle Arbeiten schön deutlich machen, ist die Hybridität der Verbraucher, also die Tatsache, dass wir Mischwesen sind, die durch technische Apparaturen und materielle Infrastrukturen erst zum Handeln als – verletzliche, verantwortliche oder transparente – Verbraucher gebracht werden. Insofern müssen wir, wenn wir uns mit dem "21st Century Consumer" beschäftigen wollen, die Akteur-Netzwerke und technischen Umgebungen vornehmen, die dieses Verbraucherwesen erst hervorbringen.

Dies wird auch an der dritten Abschlussarbeit mehr als deutlich, an der Master-Thesis von Anika Cerkowniak, die sich der Gestaltung eines Eco-Feedbacksystems zur Förderung der Nachhaltigkeit in den Bereichen Haushalt, Arbeit und Mobilität widmet. Denn an Feedbacksystemen, wie wir sie aus neueren Autos kennen, die Hinweise zum spritsparenden Schalten geben und uns mit Informationen über den aktuellen und durchschnittlichen Spritverbrauch versorgen, wird offensichtlich, dass die Perspektive auf isolierte Verbraucher immer in die Irre führt, weil es eben komplexe Aggregate, vielschichtige Kollektive sind, die aufs Gaspedal drücken, ins Regal greifen, auf Buttons klicken oder Reflexionsvorgänge einleiten.

In diesem Sinne macht Frau Cerkowniak, die an der Universität Siegen einen Master in Human Computer Interaction absolviert hat, den nachhaltigen Konsum zur IT-Gestaltungsaufgabe. Die Herausforderung, der sie sich stellt, besteht in der Aufbereitung und Zusammenführung von Verbrauchsinformationen aus drei Bereichen des alltäglichen Lebens – Haushalt, Arbeit und Mobilität –, um diese zu einem handlungsmotivierenden Feedbacksystem ästhetisch zu verdichten. Interessant ist nämlich, einmal die Gesamtbilanz der eigenen Energienutzung an einem Ort gespiegelt zu bekommen. Personen, die zuhause sparsam sind, achten nämlich noch lange nicht am Arbeitsplatz auf Energiekosten und machen mit dem Auto vielleicht trotzdem viele unnütze Fahrten. Sich bereichsspezifisch die Bedingungen des Energieverbrauchens, der technischen Erfassung von Verbrauchsdaten, der Überwindung problematischer Verhaltensroutinen, der Kommunikation von Feedback – etwa mittels sozialer Medien oder Gamification – sowie der grafischen Darstellbarkeit genau zu erschließen, erfordert ein sehr breites Spektrum an Kompetenzen.

Noch mehr als diese Breite hat mich aber das methodische Vorgehen der Arbeit von Frau Cerkowniak beeindruckt. Hier greifen nämlich ganz unterschiedliche Verfahrensschritte konsequent ineinander: Interviews mit Probanden, Diskussion händisch gezeichneter Interface-Prototypen, Co-Design-Workshops mit Nutzerinnen und Nutzern, der Einsatz von Schere und Papier, die Berücksichtigung all dieser Schritte bei der Programmierung eines digitalen High-Fidelity-Prototypen, der anschließend wieder durch Probanden in einem Testlauf am Computer evaluiert wurde usw. An der Zukunftsfähigkeit eines solchen Kompetenzprofils habe ich keinen Zweifel.

In diesem Sinne möchten wir Ihnen Dreien nun für Ihre hervorragenden Leistungen ganz herzlich gratulieren!